Stress in der heutigen Zeit

24/6/23
von
Naemi Nitsche

„Ich weiß gar nicht, was mich eigentlich so stresst. Ich habe doch alles...“


„Ich darf mich nicht beklagen, anderen geht es doch viel schlechter.“


„Mein Leben ist ein Chaos. Aber eigentlich geht es mir doch gut, oder?“

Viele Menschen fühlen den Stress. Im Alltag, in der gemeinsamen Zeit mit ihren Kindern, bei der Arbeit und sogar beim ausüben freudvoller Hobbys. Irgendwie ist er allgegenwärtig und trotzdem nicht fassbar. Zahlreiche körperliche und psychische Beschwerden gehen mit dem modernen Stress einher. Aber was genau ist es, was solchen Stress auslöst und was bedeutete Stress in der heutigen Zeit?

Stress in der heutigen Zeit - der Unterschied zu früher

Die täglichen Herausforderungen sind groß, anders als vor ein paar Jahrzehnten, und sehr vielfältig. Der australische Psychologe Steve Biddulph beschreibt den Stress in der heutigen Zeit sehr treffend:

„Wie der fieberhafte, überhitzte, desorganisierte Zustand, den wir manchmal erleben, wenn wir krank sind. Unsere Lebensweise ist krank. Sie schadet uns und unseren Kindern und verwandelt eine Zeit des Überflusses und der Sicherheit, die ein Himmel auf Erden sein sollte, in eine Art Hölle. Zu viel von allem. Zu schnell. Zu wenig Glück. Vereinfachung und Entschleunigung sind das, was unsere Welt jetzt am dringendsten braucht.“

Die Maslowsche Bedürfnisspyramide - ein Bezug auf den heutigen Stress

Anhand der Maslowschen Bedürfnisspyramide schauen wir uns genauer an, was die modernen Herausforderungen ausmachen.

Stress in der heutigen Zeit: die oberen Bedürfnisse drücken auf die unteren Grundbedürfnisse.

Anhand der Maslowschen Bedürfnispyramide wird deutlich, welche Faktoren den Stress in der heutigen Zeit prägen. Glücklicherweise sind in unserem modernen, westlichen Leben die unteren beiden Ebenen der Pyramide in der Regel erfüllt: Wir haben Zugang zu gesunder Nahrung und Trinkwasser, die Möglichkeit zur Körperpflege und eine relative Sicherheit im Vergleich zu früheren Zeiten. Diese Befriedigung der Grundbedürfnisse ermöglicht es dem Menschen, sich den höheren Bedürfnissen wie Wertschätzung und Selbstverwirklichung zu widmen. Dennoch bleibt das allgemeine Stressniveau hoch. Warum?

Dieses Privileg, uns mit Status und Selbstverwirklichung zu beschäftigen, hat auch seine Schattenseiten, insbesondere in Form von Reizüberflutung. Ein übermäßiges Streben nach Individualität und Selbstverwirklichung kann das persönliche und gesellschaftliche Gleichgewicht stören. Eine zu starke Fixierung auf die oberen beiden Ebenen der Pyramide kann sich negativ auf die unteren auswirken, indem sie die Psyche, Lebenssicherheit aber auch Beziehungen belastet.

Apropos Beziehungen: Die sozialen Bedürfnisse habe ich bewusst für sich alleine stehen lassen. Diese Bedürfnisse können im Hinblick auf den Stress in der heutigen Zeit sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben.

Der heutige Stress aufgezeigt anhand des Würfelmodells

Anhand dieses Modells gehen wir nun näher auf die konkreten Stressfaktoren der heutigen Zeit ein. Das Modell umfasst die drei Hauptaspekte unseres Lebens: Raum, Zeit und Spiritualität sowie Psyche - Geist, Körper und Sozialität. Es hilft uns, die Stressfaktoren zu ordnen und genauer zu betrachten."

Raum

  • Kleiner Lebensradius vs. Weltradius: Alles ist innerhalb weniger Stunden erreichbar und kann einem jederzeit zu Verfügung stehen - erfordert entscheidungsstarke Persönlichkeit.
  • Kleiner Wohnraum vs. großer Wohnraum: Große Wohnräume müssen gepflegt und bewohnt werden, was viel Zeit/Kapazität beansprucht, die man vielfach nicht hat.
  • Zugang zu wenigen Dingen/Gegenständen vs. Zugang zu vielen Dingen/Gegenständen: Diese müssen gewartet und gepflegt werden. Schnell entsteht Zuhause einChaos und man verliert den Überblick.
  • Das Leben besteht aus wenigen einfachen Gegenständen vs. für jedes Problem gibt es eine individuelle Lösung in Form eines, genau dafür zugeschnittenen, Gegenstandes: "Apfelschneider, Rüebliraffel, Kräuter- und Zwiebelschneider, Powerhäxler, Kartoffelschneider, Gemüsehobel, Scheibenschneider, Kartoffelsalatblitz, Röstiblitz, Wenderaffel... und das nur im Bereich der Küchenraffeln" - Wie sollte man da den Überblick behalten und wissen was wirklich wichtig ist?
  • ...

Zeit

  • Wenig Freizeit vs. viel Freizeit: Der Druck kann riesig werden die Zeit "richtig" zu nutzen.
  • Leben im Jetzt vs. ständige Präsenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Wir sind ständig in der Planung. Wirklich im Moment zu leben ist schwierig. Bringt Unruhe - dem Gefühl der Langeweile wird möglichst aus dem Weg gegangen.
  • Langsamer Informationsfluss vs. ständige Erreichbarkeit: Durch die Technologie kann viel Zeitdruck entstehen. Der Alltag wird durchgetaktet.
  • Einfaches Zeitmanagement vs. Komplexe Zeitplanung: Vielfältige Aufgaben, ständige Unterbrechungen und flexiblen Arbeitszeiten erfordern eine komplexe Zeitplanung.
  • ...

Spiritualität

  • Religion ist vorgegeben vs. Religion ist individuell und wandelbar: Die Suche nach dem „Richtigen“ erscheint endlos und birgt Ängste.
  • Religiöser Verhaltensdruck vs. gesellschaftlicher Verhaltensdruck: Unser Glaube oder unsere Spiritualität steht unter dem Einfluss der Schnelllebigkeit und der Trends der Gesellschaft.
  • Feste religiöse Rituale vs. Flexible spirituelle Praktiken: Was einerseits mehr Freiheit bietet, andererseits aber auch zu Unsicherheit und Stress führen kann, wenn es darum geht, eine konsistente Praxis zu etablieren.
  • Gemeinschaftliche Spiritualität vs. Einzelgängerische Spiritualität: Spiritualität wird eher individuell und privat praktiziert. Kann zu einem Gefühl der Isolation führen insbesondere wenn es darum geht, sich mit anderen über spirituelle Fragen auszutauschen und Unterstützung zu finden.
  • ...

Psyche - Geist

  • Starr vorgegebener Lebensweg vs. wandelbarer Lebensweg: Zahlreiche Entscheidungen müssen getroffen werden.
  • Wenige Entscheidungsfreiheiten vs. unendliche Entscheidungsfreiheiten: Diese können zu Überreizung führen.
  • Wenige Aufgaben/Rollen im Leben vs. viele Aufgaben und Rollen: Diese erfordern ständiges Multitasking und vielseitige Fähigkeiten.
  • Wissen aus dem „Dorf“ vs. Wissen aus der ganzen Welt und vergangener Zeiten: Druck kann entstehen ständig in allem auf dem neuesten Stand zu sein.
  • ...

Körper

  • Körperliche Arbeit (auch für Kinder) an der frischen Luft vs. viel Kopfarbeit in geschlossenen Räumen: Und dennoch sollten körperliche Bewegung und frische Luft nach der Arbeit nicht zu kurz kommen – die Tage sind lang...
  • Fehlender achtsamer Umgang mit dem eigenen Körper vs. eine Vielzahl von Möglichkeiten und Trends zur Selbstoptimierung: Druck sich immer selbst zu verbessern und Kontrollzwang können entstehen.
  • Der Körper ist gegeben vs. der Körper kann verändert werden: Möglichkeiten zur Veränderung des Körpers, einschließlich der Anpassung an die eigene Identität, wie im Kontext von LGBTQ+... erfordert Selbstbewusstsein schon von klein auf.
  • Dass der Körper vergänglich ist, wird als normal empfunden vs. das Altern und Sterben wird verdrängt: Wir haben verlernt, uns mit kleinen Verlusten und dem täglichen Sterben auseinanderzusetzen, sodass wir uns am Lebensende oft noch schwieriger damit tun.
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Sozialität

  • Begrenzte Auswahl an sozialen Kontakten (Beständigkeit) vs. globale Vernetzungsmöglichkeiten (Unbeständigkeit): Ständige Veränderungen von Freundschaften und Beziehungen können zu unsicheren Bindungen und der Angst führen, etwas Wichtiges zu verpassen.
  • Einsamkeit vs. Überforderung durch ständige Erreichbarkeit: Durch die allgegenwärtige digitale Vernetzung wird erwartet, dass man ständig verfügbar ist.
  • Vergleichbarkeit mit den Menschen aus dem unmittelbaren Umfeld vs. Vergleichsdruck durch soziale Medien: Ständiges Vergleich mit anderen und Druck, sozial „mithalten“ zu müssen oder ein idealisiertes Bild des eigenen Lebens zu präsentieren.
  • ...

Mir schwirrt schon vom Aufschreiben dieser Gedanken der Kopf. Und dabei wäre noch so viel zu ergänzen. Geht es dir beim Lesen genauso? Oder siehst du in all diesen modernen Errungenschaften ausschließlich ein Privileg für dich und unsere Gesellschaft? Wenn du auf diesen Artikel gestoßen bist, gehörst du wahrscheinlich eher zur ersten Gruppe.

Der Stress in der heutigen Zeit ist vielleicht nicht größer als früher, aber er ist in anderer Form präsent: subtiler, weniger fassbar, oft verborgen unter "guten Dingen" und verankert in den Wertschätzungs- und Selbstverwirklichungsbedürfnissen der Maslowschen Bedürfnispyramide.

Verfügbarkeit, Austauschbarkeit, Zugänglichkeit, Wandelbarkeit, Entscheidungsdruck, Schnelligkeit, Informationsflut, Überlastung, Flexibilität, Konkurrenzdruck, Multitasking, Selbstoptimierung, Erreichbarkeit, Zeiteffizienz, Entscheidungsvielfalt, – all diese Begriffe prägen und fordern unsere Zeit.

So kannst du mit dem Stress in der heutigen Zeit umgehen

Wenn du dir mehr Ruhe in deinem Leben wünschst, ist es wichtig, Wege zu finden, um mit dem modernen Stress umzugehen. Hier sind einige Ansätze, wie du dich selbst besser kennenlernen und den Stress bewältigen kannst:

Selbstreflexion und Achtsamkeit

Nimm dir regelmäßig Zeit, um über deine Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen nachzudenken. Praktiken wie Tagebuchschreiben oder Meditation können dir helfen, ein besseres Verständnis für dich selbst zu entwickeln und den aktuellen Stresslevel zu erkennen.

Prioritäten setzen und Grenzen wahren

Identifiziere, welche Aufgaben und Verpflichtungen wirklich wichtig sind, und lerne, Nein zu sagen, wenn du dich überfordert fühlst. Setze klare Prioritäten, um deine Energie gezielt einzusetzen und Stress zu reduzieren.

Gesunde Routinen etablieren

Entwickle Routinen, die deinem Wohlbefinden dienen, wie regelmäßige Bewegung, gesunde Ernährung und ausreichender Schlaf. Diese Gewohnheiten stärken deine Resilienz gegenüber Stress und helfen dir, dich besser auf deine Ziele zu konzentrieren.

Zeitmanagement verbessern

Nutze effektive Zeitmanagement-Methoden, um deine Aufgaben zu organisieren und zu priorisieren. Werkzeuge wie To-do-Listen oder Zeitplaner können dir helfen, den Überblick zu behalten und den Druck zu verringern.

Selbstakzeptanz und Flexibilität

Akzeptiere, dass Perfektion unerreichbar ist und sei flexibel, wenn sich Dinge nicht nach Plan entwickeln. Lerne, dich selbst mit deinen Unvollkommenheiten anzunehmen und anpassungsfähig zu bleiben.

Professionelle Unterstützung suchen

Wenn der Stress überwältigend wird, zögere nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Therapeuten oder Coaches können dir wertvolle Werkzeuge und Perspektiven bieten, um besser mit den Herausforderungen umzugehen.

Indem du diese Strategien in deinen Alltag integrierst, kannst du nicht nur den Stress besser bewältigen, sondern auch ein tieferes Verständnis für dich selbst entwickeln und mehr innere Ruhe finden. Und vielleicht am wichtigsten: Nimm deine Stressgefühle ernst – sie sind berechtigt!

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